LIMBUS. Das soziale Netzwerk für die Lebenden und die Toten

Ich stelle mir eine Internetplattform namens LIMBUS vor, die das, was im Virtuellen bislang ein unwillkürlicher Effekt ist, die merkwürdige Vermischung der Vorstellungen von Lebendigem und Totem, bewusst verstärkt und emotional nutzbar macht. Auf LIMBUS bleiben die Lebenden und die Toten in Kontakt.

LIMBUS eröffnet sowohl allgemeine als auch individuelle Gedenkräume. Die Plattform hat verschiedene Levels, womit sie einem Computerspiel ähnelt. Wenn ich hineingehe, kann ich auf dem ersten Level ganz allgemein über Sterblichkeit und Tod nachdenken. Ich finde dort Texte, Bilder, Filme, Musikstücke zum Thema, die ich, wenn sie mir gefallen oder mich inspirieren, für zukünftige Besuche archivieren kann.

Auf dem nächsten Level kann ich ganz bestimmten Toten begegnen, meinen Toten. Ich suche sie über ihren Namen, ob dies der bürgerliche Name, ein Autorpseudonym oder der Netzname ist, wird ihre Entscheidung gewesen sein. Wenn ich sie nicht finde, habe ich sie nicht gut genug gekannt und soll sie nicht finden. Es gibt keinen Index, der die Suche erleichtern würde.

Ich begegne den Toten auf Level eins in Gestalt von ihnen selbst ausgewählten ideellen Inhalten. Diese Inhalte sind entweder von ihnen zu Lebzeiten selbst produziert worden oder sie stellen besagte Tote dar. Es gibt Texte, Bilder, Videos, Musik, Stimmen, verlinkte Accounts, je nachdem, wie der tote Mensch medial und formatmäßig unterwegs war  …

Menschen, denen ihr Image wichtig ist, haben so die Möglichkeit, auf LIMBUS eine Art viellagiges Postmortem-Selfie von sich zu hinterlassen. Inhalte werden gestreamt, denn es ist nicht vorgesehen, dass jemand etwas nach draußen mitnimmt. Auf Level zwei haben die Toten die Lebenden zu Gast. Alles fließt. Leben und Tod, Tote und Lebende, Untotes, Animiertes. Posts from the crypt.

 

LIMBUS. Das soziale Netzwerk für die Lebenden und die Toten

 

Auf dem dritten Level eröffnen sich nach den Gedenkkammern von Menschen die Gedenkkammern für Menschen. Hier können individuelle Erinnerungssammlungen an bestimmte Tote angelegt und aufgesucht werden. Die Toten haben auf Level drei keine kuratorische Macht mehr – wie und womit getrauert und erinnert wird, bestimmen allein die Lebenden entsprechend ihren Bedürfnissen. Andere Nutzer der Plattform können zum gemeinsamen Besuch in persönliche Gedenkräume eingeladen werden, aber die hochgeladenen Inhalte verbleiben im geschützten Rahmen; öffentlich zu sehen ist nur, was die Verstorbenen für Level zwei freigegeben hatten.

Ästhetisch würde sich Level eins algorithmisch als ästhetischer Mittelwert der personalisierten Gestaltungen der Räume in Level zwei und drei präsentieren. Man bekäme einen stets aktuellen Eindruck, wie der Tod gerade von den verstorbenen und lebenden Mitgliedern der Plattform gesehen wird. Weil immer neue Postmortem-Selfies dazukommen, ist auch das Toten-Input von Level zwei keinesfalls statisch, sondern wirkt belebend.

Meine eigenen LIMBUS-Erinnerungskammern sähen, egal, ob für mich selbst oder für meine Toten, vermutlich, obwohl virtuelle Realität, nicht nach Star-Trek-Holodeck, sondern eher wie eine Boltanksi-Installation aus, dunkel, ein bisschen bisschen pathetisch, leicht unheimlich und irgendwie auch schön. Aber das gälte eben nur für mich. Gedenken ist letztlich sozial konstruierte Geschmackssache.

Neben dem digitalen LIMBUS würde ich immer auch die physische Realität als Gedenkraum nutzen, allerdings zufälliger und weniger gesucht. Ich gehe nie an ein Grab, um an Tote zu denken, aber sie kommen ab und zu ungefragt zu mir, als Gedanke oder Erinnerung.

(Die Überlegungen zu LIMBUS sind vorläufig, aufgekommen anlässlich der Novemberaktion vom Totenhemd-Blog (»Wenn du könntest wie du wolltest: Wie würdest du dann an deine Toten denken? Dich auf welche Weise erinnern?«), eine erste Annäherung an ein sehr komplexes Thema, aber vielleicht eine wenn auch noch vage Idee, wie man das aktuell teilweise unwürdig anmutende Herumspuken von Toten im Netz positiv steuern könnte, ohne sich der Illusion eines vollständig kontrollierbaren digitalen Nachlebens hinzugeben. Über Der digitale Limbus aka The Digital Limbo schreibe ich demnächst noch mehr und tiefer.)

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