Wer sind Sie und was machen Sie?
Mein Name ist Astrid Beyer, ich arbeite als Kuratorin/Redakteurin im Haus des Dokumentarfilms und gestalte den jährlichen Branchentreff DOKVILLE. Er findet im Juni in Stuttgart statt und heute wären wir mit der zweitägigen Veranstaltung gestartet. Das diesjährige Thema waren Doku-Serien mit dem Schwerpunkt auf investigativen Formaten. Doch Corona hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Allerdings wollten wir die beiden Tage, den 18. und 19. Juni, nicht ohne einen Programmpunkt verstreichen lassen. Wir haben die Gesprächsreihe »Stimmen aus der Branche« kreiert und in den letzten zwei Wochen zwanzig Interviews mit Doku-Filmschaffenden geführt. Es ist ein vielschichtiges Zeitdokument entstanden. Zu sehen ab 18. Juni 10 Uhr. Im Halbstundentakt zeigen wir an zwei Tagen 20 Interviews und 4 Kurzfilme auf www.dokville.de.
Was sind für Sie gute Dokus und was mögen Sie daran?
Ich möchte nicht in gut oder schlecht unterteilen, denn Dokumentarfilme sind wie Bücher. Es gibt unterschiedliche Formate, Längen, Gestaltung, Themen … Mir gefällt genau die Bandbreite daran. Persönlich mag ich Filme, die etwas bewegen möchten, wie z.B. Valentin Thurns Film »Taste the Waste« über Essensverschwendung oder sein Film »10 Milliarden – wir werden alle satt«, in dem er innovative Lösungsansätze zur Ernährung der Weltbevölkerung anbietet. Oder Leonardo di Caprios »Virunga« über den Virunga Nationalpark in der Demokratischen Republik Kongo. Mit den Erlösen wird der Erhalt des Parks unterstützt. Und »The Cleaners« von Hans Block und Moritz Riesewieck über Menschen, die für Facebook, Youtube, Twitter und Co. Fotos und Videos löschen. Investigativer Film, da die Mitarbeiter der Internet-Giganten Verträge unterzeichnen, die sie zum Schweigen verpflichten. Aufwendige Recherche, spannend erzählt.
Wann und wo schauen Sie Dokus (am liebsten)?
Am liebsten tief versunken im Kinosessel auf einem Filmfestival. Ganz dunkel und ruhig um mich herum und eine große Leinwand.
Welche Doku haben Sie zuletzt gesehen?
»Becoming« von Michelle Obama. Ein Dokumentarfilm, der ihrer Biografie folgt und ein positives Signal an junge, afroamerikanische Frauen sendet. Stellt sie sehr positiv da, als »role model«: eine starke, afroamerikanische Frau, die sich ihren Weg erkämpfen musste und die häufig aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe abfällig dargestellt wurde/wird. Sicherlich ein wichtiger Film in dieser Zeit.
Welche Doku hat Sie besonders bewegt?
»I am not your negro« von Raoul Peck. Ich habe es auf dem Internationalen Doku-Festival in Amsterdam gesehen. Anschließend Filmgespräch mit Raoul Peck. Volles Haus und standing ovations. Der Film verwebt Archivmaterial zu einer Bildcollage über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren anhand von drei Freunden: Medgar Evers, Menschenrechtsanwalt, 1963 ermordet, Malcolm X, 1965 ermordet und Martin Luther King, ermordet 1968. Grundlage für den Film ist das Manuskript »I am not your negro« des afroamerikanischen Autors James Baldwin. Passagen aus dem Manuskript werden von Samuel L. Jackson gelesen. Der Film ist ein Kunstwerk.
Welche Doku hat Sie zum Staunen oder Lachen gebracht?
»Lenin kam nur bis Lüdenscheid« von André Schäfer. Basiert auf dem Buch des Philosophen Richard David Precht. Ein liebevoll-ironischer Dokumentarfilm über Familie Precht, die während der 60er und 70er Jahre ihr eigenes politisch links stehendes Universum erschuf. Mutter Precht trennt scharf zwischen Gut und Böse, Sozialismus und Kapitalismus; so ist Coca-Cola zu Hause ebenso verpönt wie Raumschiff Enterprise. Richard und seine Geschwister, von denen zwei aus Vietnam adoptiert wurden, dürfen aber Asterix lesen, weil das Französisch, also irgendwie subversiv ist und die Römer die Besatzer sind, also ähnlich wie die Amerikaner. Lustig umgesetzt.
Welche Doku ist schwer anzuschauen, aber wichtig?
»The Cove« von Louie Psihoyos über Delfinjagd in Japan. Die Bilder sind kaum zu ertragen. Ein »Öko-Thriller« über verdeckte Ermittlungen. Taucher werden eingeflogen, nächtliche Einbrüche unternommen, ferngesteuerte Kameras versteckt, all das akribisch mitgedreht und kommentiert. Denn das in dem japanischen Küstenort Taiji jährlich rund 2.000 Delfine zusammengetrieben werden, um die Schönen an Delfinarien weltweit zu verkaufen und die anderen zu töten, soll nicht an die Öffentlichkeit kommen. Der Film gewann 2010 einen Oscar.
Wo finden wir Sie im Internet?
Auf www.dokville.de.
Foto (c) Haus des Dokumentarfilms
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