Das Haus – ein Text zur Gastfreundschaft von Frank Niebel

 

Ich bin kein sehr gastfreundlicher Mensch. Ich mache nicht gern Smalltalk, ich gehe nicht gern auf Menschen zu. Nicht weil ich schüchtern oder unsicher bin: Menschen interessieren mich oft einfach nicht.

Mein bester Freund ist da anders. Er hat viele Freunde, lernt gerne neue Menschen kennen. Er ist oft unterwegs, wohnt in großen Städten in wechselnden fremden Wohnungen.

Das Haus seiner toten Großeltern lag nur 50 Meter von meinem entfernt. Er nutzte das leerstehende Haus, um an seinem Roman zu schreiben, tagsüber, meist zwei bis drei Monate im Jahr. Mittlerweile bin ich umgezogen, aber jahrelang holte ich ihn fast täglich dort ab. Wir liefen mit den Hunden um die Felder, danach zu mir einen Kaffee trinken. Wir redeten über sein Buch, seine Projekte und was es bei mir Neues gab. Er verabschiedete sich, ging zurück ins leere Haus und schrieb weiter an seinem Roman. Die Abgeschiedenheit von allem in diesem Haus half ihm sich zu fokussieren, konzentriert zu schreiben.

Wenn er das Haus nicht selbst nutzte, bot er Freunden an, für ein paar Tage oder Wochen dort zu wohnen, zu schreiben, abzuschalten. In einem Sommer kam jemand, um seine Doktorarbeit zu schreiben, ein anderer, um an seinem Roman zu arbeiten. Für mich waren es Fremde. Trotzdem holte ich auch sie fast täglich ab: wir liefen mit den Hunden um die Felder, danach zu mir einen Kaffee trinken. Wir redeten über ihre Arbeit, ihr Leben und über meines, verabredeten uns für den nächsten Tag. Sie verabschiedeten sich und gingen zurück ins leere Haus.

Ich mag nach wie vor keinen Smalltalk. Ich gehe nach wie vor nicht auf Menschen zu. Aber ich habe fremde Menschen zu Spaziergängen abgeholt, auf einen Kaffee eingeladen und mich gerne mit ihnen unterhalten. Dass sich neue Freundschaften ergaben, wäre zu viel gesagt, doch es waren gute Gespräche, über den Smalltalk hinaus. Ihre Arbeit, ihre Lebensentwürfe interessierten mich. Es hat, um es lapidar auszudrücken, meinen Horizont erweitert.

Es freute mich immer sehr, wenn mein Freund selbst sich anmeldete, er wolle wieder im Haus arbeiten. Aber wenn es nicht so war, fragte ich einfach: Wer kommt stattdessen?

 

Frank Niebel

 

Das Haus – ein Text zur Gastfreundschaft von Frank Niebel

Foto: (c) Frank Niebel

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Frank Niebel, 1981 in Süddeutschland geboren und aufgewachsen.

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Mit #orbanismgastfreundschaft, einem Blog- und Gratis-E-Book-Projekt wollen wir vorsätzlich positive Bilder, Gedanken und Vorstellungen in die Welt und zum Zirkulieren bringen. Wir hoffen, es so wieder plausibler zu machen, dass es zum Menschsein gehört, anderen Freundlichkeit entgegen zu bringen und ihnen in Notsituationen auch Schutz zu gewähren.

Wir laden euch herzlich ein, uns weitere Texte zum Thema selbst erlebte Gastfreundschaft (Umfang bis 3.000 Zeichen, kann aber auch ganz kurz sein) zu schicken, die wir bloggen und in einer versionierten E-Book-Anthologie bei Orbanism Publishing veröffentlichen dürfen. Wenn Letzteres, etwa aufgrund von Buchverträgen, nicht möglich ist, können wir Texte gern auch nur bloggen. Bitte Text mit Ein-Satz-Bio in der 3. Person, dazu optional ein Link zu eigenem Herzensprojekt, gern auch ein thematisch passendes Foto sowie ein Bild, das euch selbst zeigt (bitte nur Bilder, bei denen ihr die Rechte besitzt) , per Mail an Christiane Frohmann, cf AT orbanism DOT com, senden. – Wir möchten die Rechte an den Texten und ggf. Bildern nicht exklusiv, bitte achtet aber darauf, dass ihr spätere Nutzer auf unser Nutzungsrecht hinweist. Bitte bei diesem Projekt, weil es um persönliche Haltung geht, keine Texte unter Pseudonym einreichen.

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