Kottbusser Tor – ein Text zur Gastfreundschaft von Tania Folaji

1980 war ich Punk. Strikteste Ablehnung von allem fand ich gut und richtig. Die größten Probleme machten mir zu der Zeit die Schulpflicht, nicht erst seit dem verordneten Gespräch mit einem Berater im Berufsausbildungszentrum. Das Gespräch endete sehr schnell, als ich den Berufswunsch Rentnerin angab und der Berufsberater mich und meine Ratte, die Virus hieß, bat zu gehen, bis ich die nötige Reife mitbrächte. Ich fühlte mich mit vierzehn, fünfzehn auf allen Ebenen unverstanden und ich hasste die Welt.

Manchmal mit Freunden, öfter allein, schwänzte ich die Schule und fuhr mit der U-Bahnlinie 1 nach Kreuzberg. Ziel: Kottbusser Tor. Abhängen und schnorren. Zigaretten, Geld für Bier oder die leckeren Apfel-Schnaps-Bonbons. Mir ist nicht klar, ob ich einen Filter über die Vergangenheit lege oder ob die weitgehend unsanierte Innenstadtlage damals mit Kohle beheizt wurde, aber in meiner Erinnerung an Kreuzberg dominieren Grautöne. Am Kottbusser Tor zog ich dann also meine selbstgenähte Jacke aus, auf deren Rücken ich schön groß ein Anarchie-Zeichen raufgemalt hatte. Ich setzte mich immer auf die Treppenstufen des U-Bahneingangs. Die Straße runter der Sozialpalast, gegenüber ein Supermarkt, in dem ich hätte klauen können, was ich mich nicht traute und schnorrte … ein bisschen.

Weil ich nicht wagte, die Passanten anzusprechen, murmelte ich eher vor mich hin, wenn ein Schub Menschen aus der U 8 kam. Obwohl ich nie viel bekam, habe ich die Menschen, die um meine Beine herumstiegen, mehrheitlich als freundlich-gleichgültig in Erinnerung. Ich sprach auch deshalb wenig auf meiner Treppe, weil die Perspektive von unten nach oben immer die des Bittstellers ist. So von unten ist der Blick bei den Schuhen, man macht sich auf Beine seinen Reim. Oben, viel Kinn. Die meisten gaben nichts, manche eine Zigarette.

Und jetzt diese eine Begebenheit: Ich saß da, hatte keine Zigaretten und das gewohnte Gefühl von Alleinsein und Kälte umgab mich. Wenn ich auf mein fünfzehnjähriges Ich zurückschaue, würde ich sagen, dass ich genau diese Leere anstrebte.

Der Mann vom Gemüsestand kam direkt auf mich zu. Ich dachte, er wolle mich verscheuchen. Ich dachte, er hätte was gegen mich, gegen meine grüngefärbten Haare, gegen mein Rumhängen, gegen Virus. Ich weiß noch, wie ich mich innerlich wappnete. Er hatte Obst in der Hand. Äpfel, Bananen oder Orangen, keine Ahnung. Er streckte mir das Obst entgegen und fragte sinngemäß:

– Warum ich hier sei. Das sei kein Platz für ein Kind. Ob ich Geld für die U-Bahn brauche. Ich solle zur Schule gehen.

Ich weiß, ich wollte ihm etwas Schlaues erzählen à la Diese Gesellschaft ist die letzte Scheiße und Keine Zukunft. Aber ich konnte nicht. Er drückte mir das Obst in die Hände und sagte: „Es wird gleich regnen. Du kannst bei uns unter dem Schirm sitzen.“
Ich erfuhr nie seinen Namen. An sein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Obststand steht immer noch, Sommer wie Winter; Obst und Gemüse, leuchtende Farbkleckse.

Ich weiß nicht, ob die Besitzer gewechselt haben oder ob es jetzt seine Kinder und Enkel sind, die da bei Wind und Wetter Obst verkaufen … Aber immer, wenn ich im Kreisverkehr am Kotti stehe, der aus wildem Hupen, Fahrradfahrern und vielen abgelebten Gesichtern besteht, dann freue ich mich. Dieser Stand am Platz vor dem Kottbusser Tor ist mein Symbol für Freundlichkeit und Anteilnahme.

 

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Tania Folaji arbeitet als Autorin E-Book-Bloggerin, Herzensprojekt: e-rstausgabe, ein Facebookmagazin über E-Books & Eriginals.

Kottbusser Tor – ein Text zur Gastfreundschaft von Tania Folaji
Foto: (c) Tania Folaji

 

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Mit #orbanismgastfreundschaft, einem Blog- und Gratis-E-Book-Projekt wollen wir vorsätzlich positive Bilder, Gedanken und Vorstellungen in die Welt und zum Zirkulieren bringen. Wir hoffen, es so wieder plausibler zu machen, dass es zum Menschsein gehört, anderen Freundlichkeit entgegen zu bringen und ihnen in Notsituationen auch Schutz zu gewähren.

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