Nicht selbstverständlich – ein Text zur Gastfreundschaft von Cosima Stawenow

Was macht man, wenn die eigene Wohnung plötzlich nicht mehr bewohnbar ist? Wenn man schon so groß ist, dass man dann nicht mehr alles schnell in zwei Kisten und zwei Koffer schmeißen kann und ab zu den Eltern? Was ist, wenn man schon ein Kind hat?

2012 standen wir an diesem Punkt. Mein Mann und ich hatten drei oder vier Jobs. Mies bezahlt, aber noch mit einem Bein in der Uni, da nimmt man das ja in Kauf.

Wir wohnten auf einer Baustelle. Monat für Monat versanken wir tiefer in Lärm und Schmutz. Schließlich waren wir die einzige Wohnung im Haus, die noch bewohnt war und die Bauleute renovierten um uns herum. Wände fielen. Manchmal gab es nur Campingtoiletten. Über allem lag eine feine Staubschicht, wie in der Wüste.

Im Sommer machte es Spaß, durch die ganzen leeren Wohnungen ohne Türen zu rennen.

Im November machte das keinen Spaß mehr. Das war, als wir eines Tages nach Hause kamen und keine Heizung mehr hatten. Unser Schornstein war komplett abgedichtet worden, es gab keinen Abzug für die Öfen mehr. Absicht der Bauleute? Ein Versehen? Weiß man’s? Damit wir keine Rauchvergiftung erleiden, hatte der Schornsteinfeger die Öfen einfach abgedreht.

Wir verpackten unsere Möbel in Plastikfolie, um sie vor dem grauen Putz- und Eisenstaub zu bewahren. Dann fuhren wir erstmal zu meinen Eltern und blieben dort. Tag um Tag verstrich. Irgendwann war das zu viel. Zu viele Leute in einer kleinen Wohnung, zu viele ungeklärte Fragen. Wir mussten wieder raus.

Was nun? Wir gingen alle Optionen durch. Wen anrufen? Wo schlafen? Zu dritt? Zurück in die Staubwohnung?

Ein oder zwei Tage später hatten wir eine neue Bleibe. Mein Mann hatte unseren Freund angerufen. Der steckte gerade selbst mitten im Umzug, zahlte aber noch die Miete in seiner alten Wohnung. Wir konnten sofort dort unterkommen, für einen geringen Betrag, den wir ihm überwiesen.

Unser Freund hatte gerade geheiratet und war bei seiner Frau eingezogen. Für seine Möbel war bei ihr kein Platz. Also ließ er erstmal alles so stehen, wie es war. Wir konnten unsere Kleidung in seinen halbleeren Schrank hängen, unsere Wäsche bei ihm im Flur trocknen, seine Tische zum Essen und Arbeiten nutzen. Sogar eine eigene Festnetznummer und WLAN hatten wir.

Es kam ein kalter Winter. Wir hatten es immer warm und trocken. Während wir auf unseren neuen Mietvertrag und auf den neuen Job warteten, der endlich ein Einkommen versprach, wurde es Weihnachten. Wir kauften einen kleinen Tannenbaum. Als wir auf eine Weihnachtsfeier gingen, blieb unsere Tochter zu Hause (ja, es fühlte sich schon wie ein echtes Zuhause an!) und backte mit der Babysitterin Zimtsterne.

Auch sonst war alles wie immer. Wir vermissten nichts. An Fasching zogen wir um.

Auch, wenn unser Freund jetzt sagt, das wäre doch selbstverständlich gewesen, und er habe schließlich ein wenig Geld dafür bekommen, entgegne ich: Für uns war es das nicht. Es war ein Geschenk. Geschenke, die die dringendsten Bedürfnisse stillen, fühlen sich niemals selbstverständlich an.

 

Cosima Stawenow

 

Nicht selbstverständlich – ein Text zur Gastfreundschaft von Cosima Stawenow
Foto: (c) Cosima Stawenow

 

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Cosima Stawenow ist freie Texterin, Lektorin und Redakteurin bei Stawenow Textdesign. Privat schreibt sie auf landfamilie.net.

 

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Mit #orbanismgastfreundschaft, einem Blog- und Gratis-E-Book-Projekt wollen wir vorsätzlich positive Bilder, Gedanken und Vorstellungen in die Welt und zum Zirkulieren bringen. Wir hoffen, es so wieder plausibler zu machen, dass es zum Menschsein gehört, anderen Freundlichkeit entgegen zu bringen und ihnen in Notsituationen auch Schutz zu gewähren.

Wir laden euch herzlich ein, uns weitere Texte zum Thema selbst erlebte Gastfreundschaft (Umfang bis 3.000 Zeichen, kann aber auch ganz kurz sein) zu schicken, die wir bloggen und in einer versionierten E-Book-Anthologie bei Orbanism Publishing veröffentlichen dürfen. Wenn Letzteres, etwa aufgrund von Buchverträgen, nicht möglich ist, können wir Texte gern auch nur bloggen. Bitte Text mit Ein-Satz-Bio in der 3. Person, dazu optional ein Link zu eigenem Herzensprojekt, gern auch ein thematisch passendes Foto sowie ein Bild, das euch selbst zeigt (bitte nur Bilder, bei denen ihr die Rechte besitzt) , per Mail an Christiane Frohmann, cf AT orbanism DOT com, senden. – Wir möchten die Rechte an den Texten und ggf. Bildern nicht exklusiv, bitte achtet aber darauf, dass ihr spätere Nutzer auf unser Nutzungsrecht hinweist. Bitte bei diesem Projekt, weil es um persönliche Haltung geht, keine Texte unter Pseudonym einreichen.

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Nicht selbstverständlich – ein Text zur Gastfreundschaft von Cosima Stawenow

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